Religion und Schule in Zeiten

wachsender kultureller Vielfalt

(Folgendes Essay können Sie auch auf der Homepage des HPD lesen

oder hier herunterladen.)

Die Zuwanderungsdebatte macht der Öffentlichkeit bewusst, dass die Zeiten der Vergangenheit angehören, in denen vorwiegend zwei Kirchen mit einem Buch das Wertegerüst unserer Gesellschaft bestimmten oder zu bestimmen meinten. Deutschland ist kulturell vielfältig, nicht nur wegen einer wachsenden Zahl an Flüchtlingen. Die einen begrüßen dies, bei anderen werden Ängste geweckt. Integration ist das Zauberwort, Zergliederung der Gesellschaft in kulturell und schlimmstenfalls auch räumlich getrennte Subkulturen mit Recht ein Schreckgespenst.

Ganz neue Diskussionsthemen kann man gelegentlich in den Medien verfolgen. Zum Beispiel wird gefragt, ob es noch stimmig ist, dass die meisten öffentlichen Feiertage einen christlichen Hintergrund haben. Brauchen wir nicht auch muslimische oder jüdische Feiertage. Oder sollen wir besser zum Feiertag erheben, was jenseits vom Glauben einzelner Religionsgruppen gemeinsame Werte bewusst macht? Also statt Christi Himmelfahrt und Fronleichnam den Tag der Menschenrechte (10. Dezember) und den Tag der Erde (22. April). Grundlegende Gewohnheiten stehen zur Diskussion.

Uns sollte bewusst sein, dass es in der überfälligen Debatte längst nicht nur um die Frage geht, wie wir neu Zugewanderte in unser Land integrieren. Es geht vielmehr darum, in unserer Gesellschaft einerseits ein „Wir-Gefühl“ im Hinblick auf die für alle verbindlichen Grundwerte zu schaffen, die im Grundgesetz formuliert sind und sich in den Worten „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“ spiegeln. Andererseits gilt es, über weltanschauliche, religiöse und traditionsbedingte Unterschiedlichkeiten dialog- und pluralitätsfähig zu werden und zu bleiben.

Hier rückt die Schule in den Fokus der Aufmerksamkeit. Denn hier ergibt sich von selbst, dass Menschen unterschiedlichster Herkunft über lange Zeit in engstem Kontakt sind und das in den besonders prägenden Jugendjahren.

 

Religion und Schule

Kultur ist nicht gleich Religion, trotzdem ist für religiös praktizierende Menschen die eigene Religion kulturell ein bestimmender Faktor. Deshalb müssen wir über das Thema Religion und Schule diskutieren und gewachsene Selbstverständlichkeiten hinterfragen.

Eine zentrale Frage muss sein, ob wir angesichts der wachsenden Pluralität unserer Gesellschaft einen für alle verpflichtenden und staatlich verantworteten Werte reflektierenden Ethik- und Philosophie-Unterricht von der ersten Klasse an benötigen! Ist es noch sinnvoll, SchülerInnen im Religionsunterricht nach Konfessionszugehörigkeit zu trennen und damit die Wertereflexion den verschiedensten Religionsgemeinschaften zu überantworten? Sind darüber hinaus Bekenntnisschulen und Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft noch zeitgemäß oder sollten Kindergärten und Schulen auch institutionell ein weltanschaulich neutraler Lernort aller gleich welchen weltanschaulichen Hintergrunds sein? Sollten statt Kreuzen, Halbmonden oder etwa Buddha-Statuen nicht die Flagge der Vereinten Nation oder Auszüge aus den Grundrechtsartikeln oder Menschenrechtserklärungen die Klassenzimmer schmücken? Sollte oberstes Erziehungsziel nicht mehr „Ehrfurcht vor Gott“, sondern „Achtung der Menschenrechte und des Lebens auf unserem Planet Erde“ stehen?

Hier wird die Integrationsdebatte interessant, denn sie betrifft nicht nur die Zuwanderer, sondern uns alle!

 

Gegensätzliche Leitbilder

Am Beispiel der beginnenden Diskussion um die konfessionelle Bindung des Religionsunterrichts lassen sich wesentliche Argumentationslinien zu unserem Thema aufzeigen. Zwei Leitbilder stehen hier gegeneinander, die sowohl für die Schule, als auch für das öffentlich-staatliche Leben unserer Gesellschaft gelten können.

Das eine Leitbild sieht Schule als säkularen Ort, in der unter Wahrung und Achtung persönlicher Verschiedenheit das alle Verbindende betont wird: die Verpflichtung unseren freiheitlich-demokratischen Grundwerten gegenüber. Die für die Einen mehr, für andere weniger wichtige persönliche Verbundenheit mit religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften tritt als persönliche Angelegenheit in den Hintergrund, weswegen religiöse Akteure in der Schulgestaltung keine Rolle spielen. Das Spezifische der verschiedenen Religionen und Weltanschauungen lernen SchülerInnen in einem gemeinsamen Philosophie- und Religionskundeunterricht kennen, der, wie aktuell die meisten Religionscurricula auch, zudem lebenskundliche, philosophische und ethische Fragen behandelt. Dieser staatlich verantwortete Unterricht wird so zu einem selbstverständlichen Ort der Wahrnehmung religiös-weltanschaulicher Verschiedenheit seiner Teilnehmer. Im Schulleben spielt diesem Leitbild folgend alles das eine prägende Rolle, was alle SchülerInnen teilen. Zum Beispiel säkular gestaltete und damit für alle verbindliche Feiern, sei es zu schulinternen Anlässen, wie das Schuljahresende, oder zu gesellschaftlich relevanten Gedenktagen, wie der Tag der Menschenrechte oder der Erde.

Ein Gegenentwurf zum säkularen Leitbild des Schullebens wurde 2014 in einer Denkschrift vom Rat der evangelischen Kirchen (EKD) veröffentlicht[1]. Er sieht in der Schule einen Ort, der von den unterschiedlichsten religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen geprägt wird. Wertebildender und religionskundlicher Unterricht liegt in den Händen der Religionsgemeinschaften und setzt gelegentlich ökumenische Akzente; für religionsfreie SchülerInnen wird parallel ein Ethikunterricht angeboten. Klassenübergreifende Erfahrungsräume der Schulgemeinschaft werden von den unterschiedlichsten religiösen Akteuren gestaltet. Als Beispiele hierfür wird gesehen[2]: Gottesdienste zu herausgehobenen Gelegenheiten im Schuljahr, Schulandachten, meditative Auszeiten und Pausenangebote, zentrale Feste im Kirchenjahr und in anderen Religionen, ökumenische Veranstaltungen zu besonderen Anlässen (Friedensgottesdienste, Erinnerungsfeiern, Trauerfeiern), Tage religiöser Orientierung, Gospel-Arbeitsgruppen, Einkehrtage in Klöstern, Gestaltung eines Andachtsraumes. SchülerInnen werden nach diesem Leitbild einerseits für die unterrichtliche Reflexion konfessionell getrennt, im Schulganzen wird aber Pluralität erfahrbar. Unserem Grundgesetz entsprechend müssen diese gesamtschulischen Angebote allerdings freiwillig sein.

Im säkularen Leitbild der Schulgestaltung wird religiös-weltanschauliche Vielfalt in einem gemeinsamen Unterrichtsfach wahrgenommen und reflektiert, tritt aber darüber hinaus in der Schulgestaltung in den Hintergrund, wobei religiöse Akteure keinen direkten Einfluss auf das Schulgeschehen haben. Im religionsbestimmten Leitbild werden die SchülerInnen im Werte reflektierenden Unterricht in religiös-weltanschauliche Gruppen getrennt und in Verantwortung der verschiedenen Religionsgemeinschaften unterrichtet. Weltanschauliche Pluralität tritt in der außerunterrichtlichen Schulgestaltung prägnant in Erscheinung. Kirchliche und religiöse Akteure haben damit erheblichen Einfluss auf die Schulgestaltung.

Mit der konfessionellen Bindung des Religionsunterrichts – deutlicher natürlich noch mit dem Bekenntnisschulsystem – ist der Weg zum religiös geprägten Schulwesen vorgezeichnet. Der säkulare Weg hingegen setzt einen gemeinsamen Philosophie, Ethik und Religionskundeunterricht voraus.

 

Folgen konfessioneller Bindung des Religionsunterrichts

Nun muss man sich klar sein, welche Folgen die konfessionelle Bindung des Religionsunterrichts hat:

  • Religionsunterricht wird von vielen institutionalisierten religiösen Akteuren erteilt: Neben dem klassischen evangelischen und katholischen Religionsunterricht gibt es schon jetzt altkatholischen, syrisch-orthodoxen, jüdischen, alevitischen und islamischen (sunnitischer Prägung) Religionsunterricht[3]. Auch hinduistischen oder buddhistischen Religionsunterricht wird es bei wachsendem Bedarf geben. Und wie steht es mit den „Zeugen Jehovas“, die in den meisten Bundesländern als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ anerkannt sind. Und ... – Der Gleichbehandlungsgrundsatz gebietet, allen in Deutschland praktizierten Religionen die Möglichkeit zur Gestaltung eines Religionsunterrichtes zu geben, wenn eine Mindestteilnehmerzahl erreicht wird und der Religionsunterricht nicht den Bildungszielen der Schule widerspricht. Zudem wird ab der Religionsmündigkeit der SchülerInnen parallel auch ein Ethikunterricht angeboten. Die Zeiten also, in denen Religionsunterricht im Wesentlichen eine Angelegenheit der katholischen und evangelischen Kirche war, gehören der Vergangenheit an.
  • An den Religionsunterricht gebunden ist auch die Ausbildung der ReligionslehrerInnen. Dies ist eine wesentliche Legitimation der konfessionellen theologischen Fakultäten an den Universitäten, die natürlich entsprechend der religiösen Vielfalt ausgebaut werden müssten, neben der religionswissenschaftlichen Fakultät, die als Fachdisziplin der konfessionsneutralen Religionskunde Bestand hat.
  • Es benötigt nicht viel Mathematik, um zu erahnen, dass Religionsunterricht im Vergleich zu im Klassenverband unterrichteten Fächern, wie beispielsweise die Fremdsprachen, schon jetzt finanziell aufwendig ist und noch aufwendiger werden wird.
  • Die inhaltliche Verantwortung des Religionsunterrichtes unterliegt den Konfessionsgemeinschaften. Der Staat wacht nur über die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz.
  • Der Religionsunterricht vermindert die strukturelle Flexibilität des Stundenplans mehrzügiger Schulen, da er in parallelen, klassenübergreifenden Gruppen unterrichtet wird. Dies führt dazu, dass moderne Modelle, wie die Konzentration von ein- oder zweistündigen Fächern über Schulhalbjahre oder in Form von Quartalsstundenplänen erschwert wird.
  • Konfessionsfreie SchülerInnen und religionsgebundene SchülerInnen, für die kein Religionsunterricht angeboten werden kann, erhalten bis zur Religionsmündigkeit keinen vergleichbaren Unterricht und haben in dieser Zeit Freistunden.[4]
  • Im konfessionellen Religionsunterricht werden SchülerInnen in bekenntnishomogenen Gruppen von LehrerInnen unterrichtet, die ebenfalls ausschließlich dem eigenen Bekenntnis angehören. Es wird zur gelebten Selbstverständlichkeit, dass sie, wenn religiös-weltanschauliche Fragen schulisch thematisiert werden, in konfessionelle Gruppen separiert sind.
  • Im Religionsunterricht geht es keineswegs nur um die jeweils eigene religiöse Weltdeutung, das jeweils spezifische Bekenntnis. Religionskunde, also ein Kennenlernen anderer Religionen, steht genauso auf dem Lehrplan, wie philosophische Reflexionen. So wird beispielsweise das Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Glauben im Religionsunterricht thematisiert. In den Curricula der Naturwissenschaften wird dieses Thema kaum berücksichtigt und kann daher schon aus Zeitgründen nur punktuell behandelt werden. Um ein Beispiel anzuführen: Die für die gesellschaftliche Diskussion so wichtige Reflexion zum Verhältnis von Glaubensinhalten und Evolutionstheorie findet daher oftmals wesentlich ausführlicher im konfessionell gebundenen Religionsunterricht statt, als im Biologieunterricht. Die Frage muss erlaubt sein, wie es um die notwendige biologische Kompetenz bei diesem strittigen Thema steht.
  • Sehr viele religionsunabhängige „lebenskundliche“ Themen, wie der Umgang mit Trauer, das Erfahren eines „Raumes der Stille“ oder ethische Diskussionen, die natürlich auch, aber nicht nur bekenntnisspezifische Dimensionen haben, sind ganz selbstverständlich Teil des Religionsunterrichtes.

 

Staatlicher Bildungsauftrag angesichts weltanschaulicher Pluralität

Bei der Entscheidung, welches Leitbild das angemessenere ist, muss betont werden, das die zentrale Bildungsaufgabe des Staates angesichts wachsender religiöser und weltanschaulicher Vielfalt sein muss, die Dialog- und Pluralitätsfähigkeit junger zukünftiger BürgerInnen zu befördern. Denn Demokratie lebt vom Diskurs und ist nur möglich, wenn Menschen mit unterschiedlichen Lebensauffassungen immer wieder neue gesetzliche Kompromisse auszuhandeln und zu leben in der Lage sind. Öffentlicher Friede hat dann ein sicheres Fundament, wenn über abweichende Vorstellungen hinweg gemeinsame Werte ein Mindestmaß an Wir-Gefühl generieren. Diese können in einer freiheitlichen Demokratie nur die Wertetrias „Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität“ sein; nicht die religionsspezifische Trias „Glaube, Liebe, Hoffnung“, die Konfessionsgemeinschaften im „wir glauben so“ eint und im „ihr glaubt anders“ abgrenzt. Das sieht auch der Rat der EKD so[5].

Ist es aber auch staatliche Aufgabe, die religiöse Identität der Heranwachsenden BürgerInnen zu festigen und konfessionell zu profilieren, wie dies durch die konfessionelle Bindung des Religionsunterrichts intendiert wird? Sollen SchülerInnen verpflichtet werden, über das hinaus, was ihnen ihr Elternhaus und die Teilnahme an konfessionellen Angeboten ihrer Religionsgemeinschaft mitgibt, durch einen konfessionellen Religionsunterricht ihrer Konfessionsidentität zu schärfen? Denn die Teilnahme am Religionsunterricht ist für konfessionsgebundene SchülerInnen bis auf die Möglichkeit, sich abmelden zu können, verpflichtend. Dies befürwortet der Rat der EKD.

Dafür spricht zunächst der Artikel 7 (3) des Grundgesetzes: „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach.“ Wie man sieht, lässt dieser Artikel schon jetzt bekenntnisfreie Schulen ohne konfessionellen Religionsunterricht zu. Zu demokratischen Selbstverständlichkeiten gehört auch, dass Verfassungen keine göttlichen Offenbarungen, sondern Grundvereinbarungen sind, die in besonderen historischen Situationen formuliert wurden und damit sich verändernden Bedingungen angepasst werden können. In Bezug auf weltanschauliche Vielfalt hat sich die Situation Deutschlands seit der Nachkriegszeit gründlich und damals nicht absehbar verändert. Wir müssen also über den konfessionellen Religionsunterricht neu nachdenken!

 

Konfessioneller Religionsunterricht oder Philosophie, Ethik und Religionskundeunterricht

Die Konfessionalität des Religionsunterrichts ist damit eine Kernfrage der Debatte um Religion und Schule. Es sei betont, dass es sicher keine wünschenswerte Perspektive ist, den Religionsunterricht ersatzlos zu streichen – wie es schon jetzt über viele Jahrgänge hinweg für konfessionsfreie SchülerInnen der Fall ist. Religionskunde ist ebenso wichtig, wie ein Unterricht, der Werte und Lebensfragen reflektiert und in die philosophischen und weltanschaulichen Grundlagen einführt, die unsere Gesellschaft prägen.

Angesichts der oben aufgeführten Besonderheiten und des nicht unerheblichen finanziellen und organisatorischen Aufwandes braucht es starke Argumente, um auch zukünftig die Konfessionalität des Religionsunterrichtes der Allgemeinheit gegenüber zu rechtfertigen. Argumente formuliert der Rat der EKD in der zitierten Denkschrift. Die Frage ist, ob sie überzeugen.

 

Religionsunterricht will religiöse Identität profilieren

Kinder und Jugendliche bilden im Laufe ihrer Sozialisation in Elternhaus und Lebensumfeld ein persönliches weltanschauliches Weltbild aus. In Zeiten konfessionshomogener Gesellschaften konnte man davon sprechen, z. B. katholisch oder protestantisch sozialisiert worden zu sein. Junge Menschen erleben heute verschiedenste Lebensvorstellungen. Immer häufiger haben auch die Denk- und Lebensgewohnheiten der Elternhäuser kein ausgeprägtes konfessionelles Profil. Unzweifelhaft ist es wichtig, den in eine pluralistische Welt hineinwachsenden Menschen religiöse und weltanschauliche Kenntnisse zu vermitteln, damit sie sich auf der Suche nach ihrer persönlichen weltanschaulichen Identität bewusster orientieren können. Sie haben somit ein „Recht auf religiöse Bildung“[6] und – religionsunabhängig – weltanschauliche Bildung, muss man ergänzen. Sie soll Kindern und Jugendlichen helfen „religiöse“, aber eben auch weltanschauliche „Orientierung zu gewinnen“. Die Frage ist nur, mit welchem Ziel.

Eindeutig positioniert sich der Rat der EKD: „Der Religionsunterricht versteht sich als Beitrag zur religiösen Identitätsbildung. [...] Eine religiöse Identität ist angewiesen auf die persönliche Vertrautheit mit einer bestimmten religiösen Tradition sowie auf die Orientierungsmöglichkeiten, die sich daraus für den eigenen Glauben ergeben.“[7] Damit ist deutlich – und wie soll es auch anders sein –, dass es um religiöse Orientierung im Kontext der jeweiligen konfessionell-religiösen Denk- und Glaubenstradition geht, damit die Identität der Heranwachsenden im konfessionellen Sinne profiliert wird. Der Selbsterhaltungstrieb konfessionell- religiöser Traditionen macht das durchaus verständlich.

Doch muss gefragt werden: Reicht für die konfessionelle Profilierung das innerreligiöse Angebot der jeweiligen Religionsgemeinschaften, beispielsweise der Konfirmationsunterricht, nicht aus? Ist die konfessionelle Profilierung derjenigen Heranwachsenden, die einer Religionsgemeinschaft angehören, tatsächlich staatliche Aufgabe? Haben Heranwachsende über die ggf. innerreligiöse Orientierung hinaus nicht auch ein Anrecht darauf, ohne die jeweilige konfessionsspezifische Brille andere Glaubens- und Denktraditionen kennenzulernen, auch auf die „Gefahr“ einer Relativierung der Herkunftstradition hin? Wer entscheidet eigentlich, welche religiöse Identität der Heranwachsende ausbilden soll – ausschließlich das Elternhaus, die Taufe und damit Mitgliedschaft in einer Kirche vor der Religionsmündigkeit? Oder haben junge Menschen nicht ein Recht darauf, religiös- weltanschaulich möglichst breit und unvoreingenommen gebildet zu werden, um dereinst selbst über ihre Identität entscheiden zu können, auch wenn diese Identität auch einmal kein traditionelles religiöses Profil hat? Ist der „eigene Glaube“ des jungen Menschen, von dem der Rat der EKD in obigem Zitat spricht, der Glaube des konfessionellen Vorzeichens, oder nicht vielmehr der persönliche „Glaube“, der sich durch die Erfahrungen ergibt, die im Laufe des Lebens gemacht wurden?

Die Konfessionalität des Religionsunterrichts beantwortet diese Fragen im Sinne der Glaubenstraditionen. Er arbeitet damit gegen den gesellschaftlichen Trend, dass „aufgrund des Wandels der Religionssozialisation immer weniger mit klar ausgeprägten religiösen Identitäten gerechnet werden kann“.[8] Dieser Trend wird vom Rat der EKD eindeutig negativ gewertet. So ist von religiöser Gleichgültigkeit die Rede[9], von Relativismus, Beliebigkeit und Willkür[10]. Aus der Sicht theologischer Denktraditionen ist das verständlich, aber die Individualisierung religiös-weltanschaulicher Lebensgestaltung und Denkmuster kann sehr wohl auch positiv als Ausdruck davon begriffen werden, dass – nicht nur – junge Menschen von ihren weltanschaulichen Freiheiten Gebrauch machen und beginnen, sich „ihres Verstandes ohne die Leitung anderer zu bedienen“.

Nein, es kann nicht staatliche Aufgabe sein, die religiöse Identität der SchülerInnen mit einer Religionszugehörigkeit durch einen konfessionellen Religionsunterricht zu schärfen – und dies, wie oben dargestellt, auf Kosten konfessionsfreier SchülerInnen. Vielmehr muss staatliche Aufgabe sein, im religiös gemischten, gemeinsamen und verbindlichen Rahmen des Philosophie-, Ethik- und Religionskundeunterrichtes eine breit gefächerte religiös-weltanschauliche Orientierung jenseits der Konfessionalität zu geben. Die konfessionelle Profilierung der religiösen Identität der Jugendlichen ist eine außerschulische Privatangelegenheit, für die die jeweiligen Religionsgemeinschaften ihre Angebote für Interessierte bereithalten mögen. Innerkonfessionelle Vergewisserung können Kinder und Jugendliche in ihren Religionsgemeinschaften erleben und in der Schule Gesprächs- und Dialogfähigkeit zur Selbstverständlichkeit werden lassen.

 

Pluralitätsfähig durch Profilierung der religiösen Identität?

Wie lässt sich dann aber die Konfessionalität des Religionsunterrichtes begründen? Die zentrale Argumentationslinie des Rates der EKD fasst sich in folgendem Zitat zusammen: „In der Theologie wird zu Recht darauf hingewiesen, dass eine gefestigte religiöse Identität die Voraussetzung für Dialogfähigkeit darstellt. Eine als unsicher erfahrene Identität kann zur Abschottung gegenüber anderen führen. [...] Eine Haltung der Beliebigkeit hingegen kann die Bereitschaft, sich auf andere und anderes einzulassen, nicht unterstützen, schon weil aus der Voraussetzung einer solchen Beliebigkeit keinerlei Interesse an unterschiedlichen Überzeugungen erwachsen kann.“[11] Je gefestigter die religiöse Identität, desto dialogfähiger sei der Mensch. Offen gestanden habe ich bisher gegenteilige Erfahrungen gemacht. Die Bereitschaft, sich auf einen konstruktiven Dialog mit unterschiedlichen Weltauffassungen einzulassen, habe ich bei ausgesprochen religiösen Menschen selten erlebt. Auch wage ich die Behauptung, dass ausgeprägte religiöse Identitäten eher für machterhaltende Aktivitäten gegenüber Andersglaubende genutzt wurden, als dass sie zur Harmonisierung und Dialogfähigkeit religiös heterogener Gesellschaften beitrugen.

Um zu belegen, wie schwierig der „interreligiöse Dialog“ zwischen ausgeprägt religiösen Lagern ist, braucht man dieses Stichwort nur einmal bei Wikipedia nachzuschlagen.[12] Man wird darüber informiert, wie schwierig sich dieser Dialog gestaltet und wie sehr er erlernt werden muss. Zudem erfährt man, dass es in den religiösen Lagern sowohl Dialogbefürworter, als auch Dialogkritiker gibt. Letztere sind beispielsweise der Ansicht, „Dialog sei gefährlich, weil er die Unterschiede zwischen wahr und unwahr verneble“[13]. Ähnliche Befürchtungen lassen sich auch aus dem Text des Rates der EKD herauslesen, wenn es z. B. in Bezug auf die Praxis eines konfessionsübergreifenden Religionsunterrichtes heißt, dass hierbei ohne kirchliche Vereinbarungen „der Umgang mit religiösen Unterschieden zu verflachen“[14] drohe.

Nun kann an dieser Stelle nicht ausführlicher darüber philosophiert werden, was unter Dialog und damit Dialogfähigkeit zu verstehen ist. Er kann sich aber nicht darin beschränken, dass Dialogpartner sich in ihrer Unterschiedlichkeit kennenlernen. Von einem Dialog kann man erst sprechen, wenn die Beteiligten Argumente austauschen, die, wenn sie überzeugen, auch die jeweils eigenen Positionen verändern. Dies schließt ein „Missionieren wollen“ des Dialogpartners genauso aus, wie es Interesse für die Argumente des anderen einschließt, weil sie ja möglicherweise Überzeugendes beinhalten, das den Einzelnen weiterbringt und verändert. Je unterschiedlicher die weltanschaulichen oder religiösen Positionen der Dialogpartner sind, desto mehr haben wir das Problem, den Dialog an Dogmatismus und Beliebigkeit vorbei fruchtbar zu gestalten. Das will gelernt sein und genau das ist Sinn eines gemeinsamen Philosophieunterrichts. Man braucht nur nach „Philosophieren mit Kindern“ zu recherchieren, um zu erfahren, dass schon Kinder in diesem Sinne Dialogfähigkeit üben können.

Es muss der Argumentation des Rates der EKD entgegengehalten werden, dass eine allzu gefestigte religiöse Identität einer offenen Dialogfähigkeit eher im Wege steht, als dass man davon sprechen kann, dass sie die „Voraussetzung für Dialogfähigkeit“ darstellt. Denn, um eine in humanistischen Kreisen klassischen Formulierung des Philosophen Michael Schmidt-Salomon zu zitieren, Dialogfähigkeit setzt der eigenen Weltsicht gegenüber folgende Haltung voraus: „Sei dir deiner Sachen nicht allzu sicher! Was uns heute als richtig erscheint, kann schon morgen überholt sein! Zweifle aber auch am Zweifel! Selbst wenn unser Wissen stets begrenzt und vorläufig ist, solltest du entschieden für das eintreten, von dem du überzeugt bist. Sei dabei aber jederzeit offen für bessere Argumente, denn nur so wird es dir gelingen, den schmalen Grat jenseits von Dogmatismus und Beliebigkeit zu meistern.“[15]

So kann es wohl kaum staatliche Aufgabe sein, die religiöse Identität durch einen konfessionellen Religionsunterricht zu konsolidieren. Ein gemeinsamer Philosophie-, Ethik- und Religionskundeunterricht liegt im ureigensten Interesse einer weltanschaulich heterogenen Gesellschaft und muss mit aller Entschiedenheit ins öffentliche Schulwesen eingeführt werden.

 

Gemeinsamkeit betonen

Kindergärten und Schulen sind zentrale Orte der Sozialisation künftiger BürgerInnen. In unserer weltanschaulich heterogenen Gesellschaft müssen sie als Lernorte des Miteinanders verstanden werden. Wer die Schule verlässt, sollte ein „Wir-Gefühl“ mitnehmen, das alle Mitmenschen in unserem Lande umfassend den Willen erleben lässt, eine freiheitlich-demokratische Solidargemeinschaft zu gestalten. Nicht das Trennende, sondern das Verbindende muss daher betont werden. Dafür müssen alle Bildungseinrichtungen in dem Sinne weltanschaulich neutrale, säkulare Orte sein, als niemandem eingeräumt wird, seine Lebensentwürfe und Glaubenspraktiken in den Vordergrund zu stellen.

Kontraproduktiv ist es, wenn SchülerInnen erlebt haben, dass weltanschaulich-religiöse Reflexion im Wesentlichen in glaubenshomogenen, getrennten Gruppen stattfindet. Ein gemeinsamer Philosophie, Ethik und Religionskundeunterricht übt die Dialogfähigkeit zwischen den MitschülerInnen unterschiedlichster Herkunft von Kindesbeinen an, ohne Religionsfreie auszugrenzen. Religiöse Sozialisation hat ihren Platz in Elternhäusern und Religionsgemeinschaften. Die Bildungseinrichtungen sind als Spiegelbild der Gesellschaft Orte des Miteinanders und des Dialoges – ohne Ausnahmen.

Statt eine immer größer werdende Vielfalt religiöser Feierlichkeiten in Bildungseinrichtungen zu zelebrieren wäre es an der Zeit, gemeinsame Gedenktage festlich zu begehen, wie beispielsweise den Tag der Menschenrechte oder der Erde.

Historisch gewachsene Lebensentwürfe unterschiedlicher Menschengruppen mögen sehr verschieden sein. Kindergärten und Schulen müssen aber das Bewusstsein dafür stärken, dass die größten Herausforderungen unserer Zeit für alle Menschen weltweit die gleichen sind und nur miteinander bewältigt werden können: Wahrung des Friedens und der Lebensfähigkeit unseres Planeten.

 


[1] EKD: „Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloher Verlagshaus, ²2014. Alle Seitenausgaben aus dieser Publikation, die auch online abrufbar ist.

[2] Ebenda, S. 117.

[3] Siehe den neuen Bildungsplan Baden-Württembergs: http://www.bildungspläne-bw.de/,Lde/Startseite/BP2016BW_ALLG#FaecherGMSO (8/2016).

[4] Wegen der hohen Zahl dieser SchülerInnen bieten manche Schulen schon ab der fünften Klasse einen Ethikunterricht an.

[5] Z. B. „Religiöse Orientierung gewinnen …“, siehe oben, S. 8.

[6] Ebenda, S. 36.

[7] Ebenda, S. 42,43.

[8] Ebenda, S. 75.

[9] Ebenda, S. 24.

[10] Ebenda, S. 60.

[11] Ebenda, S. 45,46.

[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Interreligi%C3%B6ser_Dialog

[13] Ebenda.

[14] „Religiöse Orientierung gewinnen …“, S. 29.

[15] Michael Schmidt-Salomon: „Manifest des evolutionären Humanismus, Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur“ Alibri ²2006, S. 158.

 

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© Ulf Faller